Komplexität verstehen und damit umgehen können:

die Prämortem-Methode


„Verstehen kann man das Leben rückwärts; leben muss man es aber vorwärts.“

Søren Kierkegaard


Hinterher sind wir immer schlauer. Wie wir unsere Zukunft etwas aktiver gestalten können als nur beim nächsten Mal besser aufzupassen.

„Aus damaliger Sicht, mit dem Wissen von damals, war das eine gute Politik“, sagt heute einer, der an vielen Entscheidungen beteiligt war. Seit dem 24. Februar zermartere er sich täglich das Hirn. Die Antworten, die er findet, schmerzen. »Mit dem Wissen von heute«, sagt er, »hätte man anders handeln müssen.« Mit dem Wissen von heute hätte man all das, was heute getan wird, schon damals tun müssen: die Energiepolitik radikal ändern. Nord Stream 2 nicht weiterbauen. Ist das besprochen worden, erwogen, zumindest hypothetisch? Es wäre doch idiotisch gewesen, das vorzuschlagen!, sagt er. Weil das, was heute so logisch erscheint, damals völlig verrückt geklungen hätte.

aus Die Zeit

Kann es eine bessere und zugleich aktuellere Beschreibung für Komplexität geben?

Komplexität bedeutet in letzter Konsequenz Überraschung. Überraschung, die man nicht prognostizieren kann. Daher bietet bisher bewährtes Wissen auch keine Strategie im Umgang mit Komplexität. 

Man kann sich aber vorbereiten. Man kann alternative Szenarien aufstellen. Die politische und gesellschaftliche Belastbarkeit und Tragfähigkeit hängt von der Glaubwürdigkeit dieser Szenarien ab. Dafür müssen die Szenarien anschaulich sein. Sie müssen in unserem Gehirn Emotionen auslösen. 

Und Szenarien müssen insbesondere dann, wenn sie der herrschenden Meinung entgegentreten, in Form einer in sich logischen und emotional bewegenden Geschichte erzählt werden. Geschichten sind tragfähig und verbindend.

Geschichten, die eine mögliche Zukunftsperspektive beschreiben, stellen die zweitbeste Möglichkeit dazu dar, dass die Zukunft tatsächlich eingetreten ist. Denn sonst bleibt uns nur die alte Plattitüde, hinterher sind wir immer schlauer. 

Wie entwickelt man gute Geschichten, aus denen sich Zukunft gestalten lässt? 

Ein Beispiel: viele Menschen reden gerade davon, in drei Jahren ein LNG-Terminal in Brunsbüttel zu haben. Ein ambitionierter Plan. Politisch umstritten und doch scheinbar alternativlos. Solche Pläne haben das Potential, gewaltig schief zu gehen. 

Dann nämlich, wenn sich im Kreis der Entscheider ein unrealistischer Optimismus ergibt, bei dem Bedenken übergangen oder mit „Basta“-Politik vom Tisch gefegt werden.

Verhaltensforscher nennen dieses Phänomen eines unrealistischen Optimismus  „Groupthink“, den Effekt des Gruppendenkens.

„Groupthink ist ein Denkmodus, in den Personen verfallen, wenn sie Mitglied einer hoch kohäsiven Gruppen sind, wenn das Bemühen der Gruppenmitglieder um Einmütigkeit ihre Motivation, alternative Wege realistisch zu bewerten, übertönt.“

Janis, I. L. (1972). Victims of groupthink: A psychological study of foreign-policy decisions and fiascoes. Houghton Mifflin.

Schritt 1, um Groupthink zu vermeiden, besteht darin, innerhalb eines Teams auf externe Stimmen zu hören. Man muss also die besserwisserische Abschottung einer Gruppe nach außen vermeiden.

Schritt 2 besteht darin, Teamspirit und Kohäsion nicht mit Scheuklappenverhalten zu verwechseln. Ray Dalio hat in seinen „Principles“ das Prinzip „Be radically open-minded“ formuliert. Damit meint er, dass man a) sein Ego im Zaun haben sollte, sich also selbst gegenüber ehrlich sein sollte, dass man nicht alles wissen kann. Daraus folgert er b) die Strategie, seine eigene Meinung immer mit der von jemandem zu Kalibrieren, der bereit ist, einem zu widersprechen.

Wenn ein Team also die Voraussetzungen für die Vermeidung von Gruppendenken geschaffen hat, dann gilt es, eine mögliche Geschichte des Scheiterns zu erzählen, um sich selbst in Frage zu stellen und eine gute Basis für das Risikomanagement zu schaffen.

Das könnte am Beispiel des Bau eines LNG-Terminals in Brunsbüttel so aussehen: wir versetzen uns mental in das Jahr 2025. Das LNG-Terminal in Brunsbüttel ist grandios gescheitert. Umweltverbände haben dagegen geklagt, Gerichte haben den Fortschritt beim Bau mit einstweiligen Verfügungen zum Erliegen gebracht. Politische Parteien haben durch gezielte Kampagnen Bürger zu Protesten motiviert. Die Geschichte des Scheiterns wird anfassbar und wirkt emotional im besten Fall aufrüttelnd. 

Abbildung: Beispiel einer Prämortem-Methode

Prämortem nennt sich diese Methode. Im Gegensatz zu post-mortem. Das wäre nämlich die Methode hinterher sind wir immer schlauer. Oder mit den Worten des Ökonomen „Am Ende sind wir alle tot.“ Obwohl diese Erkenntnis wohl unumstritten ist, sollte sie nicht zum Maßstab der Gestaltung unserer Zukunft werden. 

Die Prämorte-Methode basiert auf einer einfachen Fragestellung, die Daniel Kahneman in seinem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ beschrieben hat.

„Stellt euch vor, ihr befindet euch ein Jahr in der Zukunft. Ihr habt den Plan in der jetzigen Form umgesetzt. Das Ergebnis ist eine Katastrophe. Nehmt euch ein paar Minuten Zeit, um eine kurze Geschichte dieser Katastrophe zu schreiben.“

Schritt 1 dieser Methode besteht darin, die Katastrophe, also den Endzustand des gescheiterten Projektes anschaulich zu schildern. Diese Visualisierung nach der Kopfstand-Methode, also im Gegensatz zu der üblichen Visualisierung von Erfolg, dient dazu, sich wirklich emotional auf die Faktoren einzulassen, die tatsächlich zu so einem Scheitern geführt haben werden.

Schritt 2 besteht dann darin, die Gründe für das Scheitern zu beschreiben. Was sind die Ursachen, die sich durch die klare Vorstellung des Scheiterns im Nachhinein gut erklären lassen?

Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, um konkret eine aktive und nach vorne gerichtete Strategie zur Risikominimierung auf den Weg zu bringen. Diese basiert dann aber nicht mehr ausschließlich auf der Basis von rationalem vorwärts-gerichtetem Risikomanagement, sondern auf der Basis einer emotional bewegenden, glaubwürdigen Geschichte der Zukunft.