Wie man richtig Fehler macht.

2013 wurde bei meinem Vater ein Tumor am Gallengang festgestellt. Es folgte eine fünfjährige Odyssee durch Kliniken und onkologische Praxen. 2016 erfolgte eine schwere Operation, mit der der Tumor entfernt werden sollte. Als meine Mutter und ich ihn besuchen wollten, teilte man uns mit, dass er sich noch immer auf der Intensivstation befindet. Es stellte sich heraus, dass eine zweite Operation notwendig geworden war.

Was war passiert? Eine aufmerksame Schwester hatte nach der Operation eine innere Blutung festgestellt und gegen die anfängliche Meinung des Arztes durchgesetzt, dass mein Vater noch einmal operiert wird. Ohne diese Aufmerksamkeit und vor allem ohne die Fähigkeit der Schwester, sich durchzusetzen und die erneute Operation zu veranlassen, wäre mein Vater wahrscheinlich an inneren Blutungen gestorben.

Wer sich mit psychologischer Sicherheit beschäftigt, der kennt höchst wahrscheinlich Amy Edmondson von der Harvard University. Amy Edmondson hat in ihrem Buch „Die angstfreie Organisation“ viel grundsätzliches zum Thema Vertrauen und psychologische Sicherheit geschrieben.

Nut hat sie ihr neues Buch „The Right Kind of Wrong“ veröffentlicht, in dem sie noch einmal explizit auf Fehler und Fehlerkultur eingeht. Interessanterweise beginnt sie ihr Buch mit ihrer eigenen Geschichte der Forschung in einem Krankenhaus, in dem sie die oft zitierte Entdeckung gemacht hat, dass erfolgreiche Teams mehr Fehler machen. Dieses Ergebnis war natürlich nicht die Hypothese ihrer Arbeit und daher schien sich ihr Forschungsauftrag in ein Desaster zu verwandeln. Nur aufgrund einer geschickten neuen Hypothese machte die Untersuchung am Ende noch Sinn. Denn es zeigte sich, dass in erfolgreichen Teams Fehler offen angesprochen werden und damit eben auch statistisch erfassbar waren. Auf Basis dieser Transparenz konnten die Teams aus den Fehlern lernen und sich verbessern. Andere, weniger erfolgreiche Teams verfügten nicht über das Vertrauen und die Sicherheit, Fehler offen anzusprechen, insbesondere dann, wenn Vorgesetzte diese verursacht hatten.

Amy Edmondson nennt drei Gründe, warum Fehler nicht angesprochen werden:

  • emotionale Hemmschwelle gegen Fehler,

  • kognitive Verwirrung bzgl. der Einordnung der Fehler,

  • Angst vor Zurückweisung.

Keiner mag Fehler, oder? Wir alle haben eine emotionale Hemmschwelle gegen Fehler. Am liebsten sind wir alle erfolgreich, was auch immer das im einzelnen heißt. Leider entwickeln sich kleine Fehler, die man sich nicht eingesteht, häufig zu größeren Fehler, die deutlich größere Konsequenzen haben. Wer kennt das nicht, man stellt einen Sachverhalt in einer Präsentation ungenau oder falsch dar, jemand spricht einen darauf an, man will das nicht wahrhaben, reagiert irgendwie patzig, der andere ist beleidigt und die Beziehung ist erst einmal im Keller. Für die Akzeptanz der Präsentation ist das nicht gerade förderlich und anschließend bekommt man den Auftrag, die gesamte Präsentation zu überarbeiten und noch einmal vorzustellen. Anstatt einen Zahlendreher zuzugeben und die Kritik fachlich zu akzeptieren, geht es auf eine emotionale Achterbahn, die in einem erheblichen Mehraufwand, Verzögerung und auch Beziehungsstress münden.

Hier hilft neben einer offenen Kultur in der Organisation vor allem ein „game frame“, also eine innere Haltung, die einen Fehler als Chance oder mindestens als nahezu unvermeidbares Übel ansieht, aus dem man lernen kann. Unterstützend wirken dabei die drei positiven Attributionen zu Fehlern, die Martin Seligman als „Learned Optimism“ beschrieben hat. Näheres dazu kannst Du hier nachlesen.

Kognitive Verwirrung heißt, das man sich nicht sicher ist, in welche Kategorie man den Fehler einordnen darf. Ob z. B. ein Fehler aufgrund einer Entscheidung unter Unsicherheit oder Komplexität wahrscheinlich ist und daher hilfreich für Lernen und Entwicklung, oder ob man eigentlich alle Informationen zur Verfügung hatte und den Fehler hätte vermeiden können. Habe ich jetzt das Recht oder sogar die Pflicht, einen Fehler in Kauf zu nehmen, oder ist es einfach nur eine Frage von Sorgfalt und Aufmerksamkeit?

In einem komplexen Umfeld (unsichere Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, z. B. Industrialisierung eines Flugzeugs mit Hochtechnologie wie VTOL) sind Fehler unvermeidbar, um technische Erkenntnisse zu sammeln und das Gesamtsystem zu entwickeln. Edmondson bezeichnet diese als intelligente Fehler.

Auch in einem (hoch-)komplizierten Umfeld, dessen viele Parameter und Zusammenhänge nur mit Expertenwissen beherrschbar sind (Testflüge), entstehen manchmal bisher unbekannte Muster und Verkettungen von Umständen, für die noch keine „kugelsicheren“ Methoden verfügbar sind. Aus solchen Situationen können Fehler entstehen, die Edmondson als „complex failures“ bezeichnet. Diesen kann am ehesten durch Einsatz von viel Erfahrung oder mit organisatorischen Methoden wie redundanten Systemen begegnet werden. Ereignisse jenseits dieser organisatorischen Methoden auftritt, sind dann sehr seltene „Black Swan„-Ereignisse, die Nassim N. Taleb beschrieben hat. Hierunter fällt wohl auch die Ereignisse auf dem Flug QF32 am 4.11.2010.

In einem einfachen Zusammenhang, für den bewährte Lösungen und Methoden verfügbar sind, entstehen manchmal auch einfache Fehler („basic failures“). Hier geht es zum einen um Fehlervermeidung durch organisatorische Vorkehrungen wie Poka Yoke. Zum anderen um Haltungsfragen wie Sorgfalt und Aufmerksamkeit, also um angemessen hohe Standards der Ausführung von Routinetätigkeiten, wie z.B. einen Gabelstapler tagein und tagaus ohne Schäden durch eine Halle zu fahren. Bei einem Kunden von mir tauchen regelmäßig Beschädigungen an Halleneinfahrten auf, die von Gabelstaplern verursacht werden, aber niemand will es gewesen sein. Um hier Folgekosten zu minimieren, liegt es auch an der Organisation, glaubwürdig Fehler zu destigmatisieren, um Ansätze für Wegeoptimierung etc. zu finden. Dabei geht es auch darum, falsche Annahmen bzgl. Wegezeiten und Rundumsicht zu identifizieren, die ggf. korrigiert werden sollten.

Angst vor Zurückweisung folgt unserem universellen Bedürfnis nach sozialer Anerkennung.

Edmondson zeigt in ihrem Buch anhand von Studien, dass viele Menschen zwar bei näherer Betrachtung Fehler unter Unsicherheit als anerkennenswert („considered praiseworthy“) betrachten, im konkreten Fall aber doch spontan in ein Muster von Zurechtweisung („treated as blameworthy“) verfallen. Der Schlüssel zu einer guten Fehlerkultur liegt also hier vor allem in der Haltung der Vorgesetzten, ihre eigene Stressreaktion (niemand mag Fehler) im Griff zu haben und objektive Kriterien an die Bewertung eines Fehlers anzulegen.

Dazu gehört auch die Bewusstheit über den fundamentalen Attributionsfehler, den Daniel Kahneman beschrieben hat. Studien zeigen, dass die meisten von uns (alle? 😉) Fehlverhalten bei uns selbst gerne auf äußere Umstände zurückführen, während wir dazu neigen, das gleiche Fehlverhalten bei anderen durch Charakterschwäche, falsche Einstellung etc. erklären. Diese Verzerrung erschwert natürlich die objektive Sichtweise und die Bereitschaft, über organisatorische Rahmenbedingungen zur Fehlervermeidung nachzudenken.

Fazit

„The right kind of wrong“ hat also damit zu tun, Fehler und das auslösende Verhalten zu systematisieren und zu destigmatisieren, um objektiv sinnvolle Reaktionen zu erlauben, und andererseits damit, sich einzugestehen, dass niemand gerne Fehler macht, egal, wie sinnvoll oder unvermeidbar sie objektiv betrachtet sein mögen. Dies beiden Perspektiven schaffen in einer Umgebung von psychologischer Sicherheit die Basis, um aus komplexen und intelligenten Fehlern zu lernen und einfache Fehler zukünftig leichter zu vermeiden.