Selbstorganisation und Agilität in komplexen Zeiten

Delegation von Führung? Vor ein paar Jahren wurde diese Frage eindeutig beantwortet. Delegation bezog sich auf operative Aufgaben, deren Erledigung durch Kontrollmechanismen sichergestellt wurde. In komplexen Zeiten stellt sich diese Frage erneut. Was bringen Selbstorganisation und Agilität in komplexen Zeiten?

Gegenfrage: warum sollte eine Führungskraft unter Unsicherheit, wenn also Erfahrungswerte weniger wichtig sind, fachlich bessere Entscheidungen treffen können? Warum muss ein Abstimmungsbedarf zwischen zwei Abteilungen, der eine schnelle Antwort an einen Kunden blockiert, bis zum nächsten gemeinsamen Chef eskaliert werden, der erst übermorgen wieder Zeit für das Thema hat? Und was ist, wenn die Hierarchie gar keine Entscheidung trifft? Was ist, wenn die Führungsspanne so groß geworden ist, dass die Hierarchie beim besten Willen nicht mehr schnell genug entscheiden kann?

Selbstorganisation fördert Selbstwirksamkeit

Kollegiale Führung, das ist mit Bernd Oestereich und Claudia Schröder (Das kollegial geführte Unternehmen) gesprochen die dynamische und dezentrale Aufteilung von Führungsarbeit auf viele Schultern anstelle von hierarchiebedingt wenigen Führungsrollen. Das bringt Entscheidungen idealerweise dahin, wo die Konsequenzen direkt spürbar sind und wo das Wissen vorhanden ist, um diese Entscheidungen gut und schnell zu treffen, nämlich dahin, wo der Kundenkontakt ist oder wo der Entscheidungsbedarf entsteht. So entsteht Selbstorganisation mit Fokus auf den Kunden.

Dabei werden eben nicht nur Routinearbeiten delegiert, sondern echte Führungsthemen, also Entscheidungen, die Auswirkungen auf Qualität, Termintreue und Kundenzufriedenheit haben. Dass solche Aufgaben bei vielen Menschen motivationssteigernd wirken und das Engagement erhöhen, hat die Wissenschaft schon lange bestätigt.

Selbstwirksamkeit ist hier das Stichwort. Selbstwirksamkeit ist ein Kernbestandteil der sogenannten Salutogenese, der Wissenschaft davon, was uns gesund erhält.

Ein wichtiger Aspekt: Kundenorientierung

Mark Poppenborg weist in seinem intrinsify newsletter darauf hin, dass Agilität nicht heißt, sich mit sich selbst zu beschäftigen, sondern sich am Markt und am Kunden besser auszurichten. („Die Agilitätslatte ist also marktgerichtet“ – Mark Poppenborg)

Auch Reinhard K. Sprenger (Radikal Digital) betont immer wieder, dass es in vielen Fällen schon reichen würde, mehr Mitarbeiter in direkten Kundenkontakt zu bringen.

Hier kommt die Kultur einer Organisation ins Spiel. Orientierung am Kunden ist ein Motiv unter vielen, das in einer Organisation wirksam ist. Kulturarbeit mit dem Model von Clare Graves unterstützt Selbstorganisation. Individuelle und organisationale Werte und Motive werden transparent gemacht. Durch geeignete Hebelpunkte in der Struktur und den Prinzipien der Zusammenarbeit kann die Kultur in Richtung von mehr Kundenorientierung beeinflusst werden.

Abstufungen von Selbstorganisation

Natürlich gibt es Abstufungen von Selbstorganisation. Teilautonome Gruppen, die im Produktionsbetrieb Führungsaufgaben wie die Schichtaufteilung, Schichtübergabe oder das Klären von Qualitätsmängeln mit vorgelagerten Produktionsteams übernehmen, machen den Anfang. Am anderen Ende der Skala stehen selbstorganisierte Teams, die Themen wie Gehaltsfindung, Einstellungen und Kündigungen von Kollegen sowie Wechsel zwischen Abteilungen ohne hierarchische Führung verantworten. (siehe Artikel „Heilsame Tränen“ über die Firma Janus in brand eins 8/2019)

Hier ist es hilfreich, die Landkarte nach Hermann Arnold zu kennen (Wir sind Chef. Haufe Verlag). In seinem Buch erklärt Arnold, wie sowohl  Anweisung und Kontrolle als wie  Selbstorganisation im heutigen Umfeld von Komplexität bestehen können. Siehe dazu auch meinen Blog Komplexität verstehen – Agilität erleben.

Koordination von Selbstorganisation

Die Koordination solcher dezentral zu treffenden Entscheidungen wird durch Rollen vorgenommen, die dafür geschaffen wurden und die ein direktes Mandat der Entscheidungsträger haben, zum Beispiel als konsultativer Fallentscheid (die Entscheidung wird an eine oder mehrere Personen mit oder ohne Konsultation der anderen Rollen delegiert) oder als institutionalisierter Koordinationskreis (Budgetkreis, Qualitätskreis, Capex-Kreis, Gehaltskreis etc.). Es wird also nicht hierarchisch gedacht (Eskalation), sondern von außen (Kreismodell) oder von der Basis her, wenn die Koordination von Entscheidungen notwendig wird. Kreismodelle stammen aus der Holacracy und Soziokratie. Einen guten Überblick über die Entwicklung und die praktische Anwendung findet man wieder bei Bernd Oestereich/ Claudia Schröder, aber auch bei Niels Pflägling (Organisation für Komplexität).

Vom Kennen zum Meistern

Das Resultat: weniger Kontrolle, mehr Vertrauen, weniger Gängelung, mehr Verantwortung, weniger Zeitverlust, höhere Entscheidungsgeschwindigkeit.

Wenn man es richtig macht!

Ein anschauliches Modell der Übertragung von Führungsaufgaben ist die Kontextbrücke von Bernd Oestereich und Claudia Schröder. Danach stellen für die Übertragung die Faktoren „Kennen“, „Wollen“ und „Dürfen“ die Basis dar. Auf Basis von Kennen darf dann durch gezielte Prototypen „Können“ und „Meistern“ entstehen.

Dürfen beinhaltet ein  ein klares Mandat der Inhaberschaft oder mindestens der Geschäftsleitung, Wollen heißt, dass dieses Mandat auch angenommen wird, es also die Motivation gibt, selbstorganisiert zu arbeiten. Kennen bezieht sich auf Regeln, die verabschiedet und eingeübt werden dürfen sowie Kompetenzen und die richtigen Instrumente zur Unterstützung der Selbstorganisation. In der Phase der Überführung von „Kennen“ zu „Können“ sehen Oestereich/Schröder die Führungskraft noch in der Verantwortung. Erst nachdem prototypisch die Voraussetzungen geschaffen wurden, geht die Verantwortung in der Phase „Meistern“ an die kollegiale Führung über.

Agilität macht Sinn bei Überraschungen

Agilität beinhaltet Beweglichkeit und Flexibilität. Typisch für agiles Arbeiten sind schnelles Prototyping, schnelles Feedback, Scrum Methoden und die Arbeit in Sprints. Das kann ein Ergebnis von kollegialer Führung und Selbstorganisation sein. Agiles Arbeiten wird zum Beispiel durch das agile Manifest beschrieben. Hierbei geht es um schnelles Reagieren im Kundeninteresse im Rahmen der Produktentwicklung.

Agilität ist wohl vor allem ein Mindset. Man muss sich halt immer wieder erinnern, dass kurze iterative Arbeitszyklen mit schnellen Feedbacks das Prinzip der Wahl sind, wenn langfristige Planung nicht funktioniert. Wenn also Überraschungen und unvorhersehbare Einflüsse die eigene Arbeit beinträchtigen.

Deshalb ist agiles Arbeiten auch nicht für alle Prozesse gleich interessant. Wann ist es interessant? Wenn man merkt, dass aufgrund von Unwägbarkeiten Arbeitsergebnisse wiederholt für die Tonne sind. Wenn sich dieses negativ auf die Motivation im Team auswirkt. Wenn vielleicht irgendwann eine Lähmung einsetzt und aus Angst vor Blindleistung und Versagen gar keine Entscheidungen mehr getroffen werden. Dann wird es interessant, sich die agile Welt einmal genauer anzuschauen.